Die Ideologie der niedrigen Gesellschaftsschichten in Byzanz
The ideology of the lower strata within Byzantine society
Wissenschaftsdisziplinen
Soziologie (20%); Sprach- und Literaturwissenschaften (80%)
Keywords
-
Ideology,
Power,
Indentity,
Social Stratification,
Hegemony,
Subaltern
Das beantragte Projekt wird die Ideologie der niedrigen Gesellschaftsschichten in Byzanz in der Zeit von der Regierung des Herakleios (610-641) bis zur lateinischen Eroberung Konstantinopels (1204) untersuchen. In diesem Zeitraum schufen die Reduzierung der kaiserlichen Herrschaft auf die östlichen Teile des Imperium Romanum und die damit einhergehende "Hellenisierung" der kaiserlichen Regierung neue geopolitische und kulturelle Bedingungen, welche als Folge der dominanten Position der hellenischen Sprache und Kultur innerhalb des in Kleinasien und der Balkanhalbinsel bestehenden Territorialkernes des Reiches eine höhere politische, kulturelle und religiöse Kohärenz förderten. Ziel ist es, die Frage der Assimilation und/oder Diversifizierung der niedrigen Gesellschaftsschichten in Hinblick auf die herrschende Kaiserideologie zu klären bzw. die Wahrnehmung der zentralisierten Kaisermacht durch die einfachen Menschen, insbesondere fernab von Konstantinopel, zu erforschen. Im einzelnen geht es um das Bild des Kaisers bei der Provinzbevölkerung, die Wahrnehmung des kaiserlichen "Staatsapparates", also der römischen politischen und gesetzlichen Sozialordnung, durch die einfachen Leute, und den politischen und kulturellen Inhalt der "Romanitas" als kollektive Identität. Die Arbeitshypothese ist, dass die Reichsbevölkerung aus ideologischer Sicht nicht so kohärent war, wie aus den Berichten der in Konstantinopel verfassten historiographischen Quellen zu schließen wäre. Die potentielle ideologische Differenzierung bzw. Abweichung oder Diskrepanz in Hinblick auf die herrschenden Kaiserideale soll daher anhand der folgenden Dichotomien aufgeklärt werden: herrschende Klasse vs. niedrige Gesellschaftsschichten, Zentrum vs. Peripherie, dominante Ideologie vs. oppositionelle bzw. abweichende Ideologien, einheitliche Identität vs. diskrepante Identität. Die Arbeitsmethode beruht auf dem Verständnis des Begriffes Ideologie als analytisches Konzept, welches nicht lediglich Ideen und Vorstellungen der herrschenden Klasse, sondern der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit betrifft und sich in einer dialektischen Beziehung zu Macht und gesellschaftlicher Stratifikation befindet. Eine gründliche Lektüre der schriftlichen Quellen zielt in erster Linie auf hagiographische und diesen verwandte Texte, welche die soziale Aktivität und die Interessen der einfachen Leute der Peripherie erblicken lassen, um eine kritische komparative Auswertung dieses Materials mit jenem aus den historiographischen sowie anderen Quellen zu ermöglichen, welche vorrangig die kaiserliche Ideologie reproduzieren. Die angestrebten Ergebnisse werden neue Erkenntnisse über die Systeme ideologischer Vorstellungen der niedrigen Gesellschaftsschichten in Byzanz liefern und die bereits vorhandenen Studien zur jeweils herrschenden Ideologie ergänzen. Dadurch wird das Bild der Ideologie der byzantinischen Gesellschaft vom 7. bis zum 12. Jahrhundert entscheidend vervollständigt, wobei die interdisziplinäre Forschung zwischen der Byzantinistik, den Mediterranen Studien und der Sozialgeschichte vorangetrieben wird.
Das Ziel des Projekts war, die Ideologie der byzantinischen Gesellschaft aus der Sicht der niedrigen Gesellschaftsschichten sowie der Wechselbeziehung zwischen Zentrum (Konstantinopel) und Peripherie (Provinzen) im Zeitraum 600-1204 zu untersuchen. Die Untersuchung ging vom Konzept eines vertikalen Dualismus zwischen dem himmlischen und dem weltlichen Bereich aus, um die Vielfalt der Wahrnehmungen vom Staatssystem, religiöser Hierarchie und lokalen Gepflogenheiten durch die Byzantiner aus epistemologischer Sicht zu erläutern. Unterschieden wird zwischen offenem und geschlossenem Dualismus, je nach dem ob die Naturgesetze und die gesellschaftlichen Abgrenzungen als veränderbar bzw. vergänglich verstanden werden oder nicht. In diesem methodologischen Rahmen wurden die zwei gegensätzlichen Thesen, nämlich theokratischer Absolutismus oder republikanische Wahlmonarchie, über die dominanten Ideologie des byzantinischen Kaiserreiches abgelehnt, da beide von einer dominanten ideologischen Tendenz der Historiographie des 20. Jahrhunderts determiniert sind, die Byzanz den strengen analytischen Kategorien einer modernen westlichen Sichtweise unterwirft. Eine alternative Betrachtung zur dominanten Ideologie und ihrer operativen Funktion in der byzantinischen Gesellschaft wurde vorgeschlagen, die zwischen einer offiziellen/normativen Staatsideologie belegbar in der Hofrhetorik und definiert als römisch- kaiserlicher Ökumenismus, und einer operativen Gesellschaftsideologie, definiert als gottgewollte orthodoxe Monokratie, unterscheidet. Weiter wurde festgestellt, dass aufgrund der Fusion von republikanischen und christlichen Idealen in der dominanten Ideologie der byzantinischen Sozialordnung die Vorstellung von göttlicher Vorsehung eine deutlich operative, also sozial durchdringende, politische Rolle hatte. Im Rahmen eines Systems von nicht-hereditärer autokratischer Herrschaft, in der eine repräsentative politische Körperschaft fehlte, die für die Ein- oder Absetzung eines Kaisers bindend für die gesamte Gemeinschaft entscheiden konnte, war Gottes Wille die einzige Idee, die sowohl den erfolgreichen als auch den erfolglosen Ausgang von Revolten als eines zentralen politischen Mittels irregulären Beschränkung der kaiserlichen Macht erklären und rechtfertigen konnte. Rücksprache mit Gottes Willen war eine pragmatische ideologische Praxis, die den einfachen Menschen helfen konnte, die willkürliche Funktion des politischen Systems zu erklären, was zu seiner erneuten Stabilisierung und Einheit beitrug. Bezüglich der kollektiven Identität wurde zwischen einer imperialen und einer ethnischen rhomäischen Identität unterschieden. Das 7. Jahrhundert diente als Ausgangspunkt eines Prozesses, der bis zum 11. Jahrhundert zur Herausbildung einer dominanten rhomäischen Ethnie im Kaiserreich führte. Trotz dieser Entwicklung blieben die Grenzen einer ethnisch- kulturellen und einer politischen rhomäischen Gemeinschaft inkongruent im byzantinischen Denken. Ethnizität hatte eine marginale Rolle bei der Bildung politischer Loyalität. Die Hauptidentitätsänderung durch die Auflösung des Kaisertums im ausgehenden 12. Jahrhundert war nicht der Übergang auf das Ideal eines ethnischen Hellenismus, sondern das irreversible Ende der operativen Funktion der dominanten Ideologie von gottgewollter orthodoxer Monokratie, die den Zusammenhalt der Rhomäer als einer politischen Gruppe jahrhundertelang untermauert hatte.
- Universität Wien - 100%
- Claudia Rapp, Österreichische Akademie der Wissenschaften , nationale:r Kooperationspartner:in
- John Haldon, Princeton University - Vereinigte Staaten von Amerika
Research Output
- 13 Zitationen
- 9 Publikationen
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2016
Titel Sprache als Identitätsmerkmal bei den Byzantinern - Auf -isti- endende sprachbezogene Adverbien in den griechischen Quellen DOI 10.1553/anzeiger147_2s5 Typ Journal Article Autor Koder J Journal Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse Seiten 5-38 Link Publikation -
2014
Titel When did Constantinople actually fall? Typ Book Chapter Autor Heilo O -
2014
Titel Roman identity in Byzantium: a critical approach DOI 10.1515/bz-2014-0009 Typ Journal Article Autor Stouraitis I Journal Byzantinische Zeitschrift Seiten 175-220 Link Publikation -
2016
Titel I glóssa os charaktiristikó gnórisma taftótitas stó Vyzántio: lígonta sé -istí kaí schetizómena mé tí glóssa epirrímata sé ellinikés pigés. Typ Journal Article Autor Koder J Journal Ta Istorika. -
2016
Titel Narratives of John II Komnenos' wars: Comparing Byzantine and modern approaches. Typ Book Chapter Autor Bucossi -
2015
Titel Beyond Orientalism: Byzantium and the Historical Contextualisation of Islam. Typ Book Chapter Autor Grünbart (Hg) Verflechtungen Zwischen Byzanz Und Dem Orient: Beiträge Aus Der Sektion "Byzantinistik" Im Rahmen Des 32. Deutschen Orientalistentages In Münster (Byzantinistische Studien Und Texte). -
2015
Titel Empire of Clay and Iron: Divisions in the Byzantine state ideology and Christian apocalyptic expectations from the reigns of Heraclius to Leo III (610-718). Typ Journal Article Autor Heilo O -
2015
Titel Die Hellenis als Mitte der Ökumene: Theodoros Laskaris über den Ursprung von Philosophie, Weisheit und Wissenschaft. Typ Book Chapter Autor Antonopoulou -
2014
Titel Sprache als Identitätsmerkmal bei den Byzantinern: Auf -isti endende sprachenbezogene Adverbien in den griechischen Quellen. Typ Journal Article Autor Koder J