Forschung zum Mitmachen
Wenn Jugendliche Prototypen für neue Technologien entwerfen, Bewohner:innen Stadtgeräusche in ihrer Umgebung aufzeichnen oder Menschen ihre Alltagssprache erforschen, werden aus Bürger:innen Forschende. In Citizen Science werden wissenschaftliche Projekte unter Mithilfe oder komplett von interessierten Amateur:innen durchgeführt. Die Citizen Scientists formulieren dabei Forschungsfragen, melden Beobachtungen, führen Messungen durch, werten Daten aus und verfassen Publikationen. Wichtige Voraussetzung ist, dass wissenschaftliche Kriterien eingehalten werden. Das Konzept bringt nicht nur die Wissenschaft voran, weil neue wissenschaftliche Projekte und Erkenntnisse entstehen, sondern öffnet auch den allgemeinen Zugang zu Wissen. Diese Form von Bürgerbeteiligung verspricht im Idealfall, Wissenschaft zu demokratisieren und sie stärker an den gesellschaftlichen Bedürfnissen auszurichten. Dies stärkt wiederum das Vertrauen in die Wissenschaft.
Vier neue Top-Citizen-Science-Projekte bewilligt
Dieses Vertrauen zu stärken, ist erklärtes Ziel des Wissenschaftsfonds FWF, der seit 2016 Top-Citizen-Science-Projekte mit bis zu 50.000 Euro pro Projekt unterstützt. Nun laufen vier neue Projekte an. Der Themenbogen spannt sich vom Einfluss der Digitalisierung auf unseren Lebensraum über den Kampf der Bergbaustadt Eisenerz gegen das Verschwinden, den Wandel österreichischer Dialekte bis hin zur Entwicklung neuer, nachhaltiger Technologien.
Mitsprache in der Stadtgestaltung
Stadt ist mehr als gebaute Umwelt. Sie ist ein Lebensraum, in dem wir miteinander in Kontakt kommen und uns auf gemeinsame Werte und Prinzipien verständigen. Dem Kunst- und Architekturtheoretiker Peter Mörtenböck ist es seit jeher ein Anliegen, zu verstehen, wie neue Technologien unsere Lebensräume und unser Zusammenleben verändern. Eine zunehmend wichtige Rolle in der Gestaltung unserer Städte spielen Daten. „Plattformen und Services wie Airbnb, Amazon, DriveNow oder Google Maps sammeln Daten über Mobilität und Kaufverhalten und setzen dieses Wissen in Kontakt mit Stadtverwaltungen dazu ein, neue Verkehrssysteme zu schaffen“, weiß Mörtenböck. Das Problem: Bei diesen datengesteuerten Abläufen ist den Bürger:innen die Mitsprache entzogen. Das Projekt „City Layers“ soll das ändern. Mithilfe einer App können Bewohner:innen selbst bestimmen, welche Daten erhoben werden sollen. So zeichnen die Teilnehmenden etwa an verschiedenen Orten der Stadt messbare Informationen wie Stadtgeräusche auf und kombinieren diese Aufzeichnungen mit individuellen Einstellungen und Erfahrungen. „In Forschung und Entwicklung gehen wir oft von Annahmen aus, bei denen allgemeine Interessen, Werthaltungen und Einstellungen von uns selbst definiert werden. Hinterher stellt sich dann heraus, dass diese fiktive Allgemeinheit nicht existiert und unsere Ergebnisse wertlos sind. Die Beteiligung von Bürger:innen erlaubt uns hingegen, eine wirkliche Vielfalt von Anliegen und Denkweisen in den Forschungsprozess einzubeziehen“, beschreibt der Umweltpsychologe den Mehrwert von Citizen Science.
City Layers: Citizen Mapping als Praxis des Stadt-Machens
Peter Mörtenböck, Technische Universität Wien, Institut für Kunst und Gestaltung
Österreichische Dialekte im Wandel
„Grüß Gott“, „Guten Tag“, „Hallo“, „Hi“, „Servus“, „Mahlzeit“ … Bereits bei der ersten sprachlichen Kontaktaufnahme mit einem Gegenüber muss man sich für eine Begrüßungsformel entscheiden. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, wie variantenreich die deutsche Sprache ist, sondern macht auch deutlich: Die gewählte Variante entscheidet, wie die Botschaft auf das Gegenüber wirkt. „Sprechen ist immer auch ein Sozialakt. Der Ton macht die Musik“, sagt Alexandra N. Lenz. Die Germanistin der Universität Wien untersucht den Variantenreichtum der deutschen Sprache in Österreich. Dabei betrachtet sie Sprache nicht nur als Mittel menschlicher Kommunikation, sondern als wichtigen Teil der Kultur, der sowohl identitätsstiftend als auch ständigem Wandel unterworfen ist. Ziel des Projektes „Das ABC der Dialekte: Historische Notizen digital erforschen“ ist es, 100 Jahre alte Dialektdaten aufzubereiten und erstmals online verfügbar zu machen. Die Datenträger sind Handschriften und Wörter auf über 100 Jahre alten Papierzetteln des WBÖ („Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich“). Über eine Online-Plattform erhalten Teilnehmende Zugang zu den Scans der handschriftlichen Belegzettel, können sie transkribieren und bewerten. Kenne ich das Wort? Hat sich der Sprachgebrauch des Wortes verändert? Verwende ich das Wort im eigenen Alltag noch? „In der Sprachwissenschaft haben Bürger:innen schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Sie liefern nicht nur Informationen zum Sprachgebrauch, sondern gestalten Forschungsfragen aktiv mit“, weiß die Professorin der Universität Wien.
„Das ABC der Dialekte: Historische Notizen digital erforschen“
Alexandra N. Lenz, Universität Wien, Institut für Germanistik
Neue Technologien für eine nachhaltige Entwicklung
Unsere smarten Geräte enthalten Materialien wie Wolfram, Zinn, Tantalum und Gold. Alle diese Rohstoffe werden in Konfliktregionen abgebaut, unter gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen zu elektrischen Schaltkreisen zusammengesetzt und letztendlich meist nach kurzer Zeit auf kontaminierten Mülldeponien entsorgt. Stefanie Wuschitz forscht nach neuen, nachhaltigen Technologien. Die Medienkünstlerin arbeitet dabei an der Schnittstelle zwischen Kunst, Forschung und Technologie. Im Projekt „Salon offener Geheimnisse“
am Technischen Museum in Wien wendet sie sich an Jugendliche, um gemeinsam mit ihnen nachhaltige, faire, ethische Technologien zu entwickeln. Zunächst besuchen die Teilnehmenden in einem virtuellen Spiel Erfinder:innen aus der ganzen Welt, die über konfliktreiche Metalle und deren Abbau informieren sowie alternative Lösungen vorschlagen. Danach bauen die Teilnehmenden in kleinen Experimenten im realen Raum Prototypen, die online präsentiert und mit Expert:innen auf einer internationalen Online-Plattform besprochen werden. „In Krisenzeiten sind es oft die ganz unorthodoxen Herangehensweisen, die eine Idee plötzlich denkbar machen. Deshalb arbeite ich gerne mit Amateur:innen zusammen“, erklärt Wuschitz. Dabei befasst sich die Wissenschaftlerin auch mit fehlender Kommunikation zwischen Wissenschaft und Jugendbewegung. „Wir möchten die Kreativität und die transformative Arbeit junger Bürger:innen nutzen und hoffen, dass die entstandenen Visionen unsere Vorstellung von Zukunftstechnologie erweitern, und dass den Teilnehmenden umgekehrt die Möglichkeit geboten wird, eine alternative Zukunft zu imaginieren“, beschreibt sie ihr Ziel. Die Basis dafür sei ein demokratischer Zugang zu Wissen, sodass Werte, Ziele und Erwartungen aller gehört werden. „Es ist dringend notwendig, dass junge Menschen, deren Leben besonders von der Klimakrise bedroht ist, die öffentliche Debatte mitgestalten“, nennt sie ihre Motivation.
„Salon offener Geheimnisse“
Stefanie Wuschitz, Akademie der bildenden Künste Wien, Institut für das künstlerische Lehramt
Eisenerz – die tägliche Arbeit des Bleibens
Der ökonomische Strukturwandel in Europa seit den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren führte zu einem Niedergang traditioneller Industrieregionen. Bergbaugebiete sind besonders stark von Schrumpfung betroffen. Was das für eine Region bedeutet, zeigt sich am obersteirischen Eisenerz, mit einem Durchschnittsalter von 54,6 Jahren die älteste Stadt Österreichs. Einerseits entsteht durch das hohe Durchschnittsalter erhöhter Pflegebedarf. Andererseits sind sowohl die Maßnahmen zur ökologischen Renaturierung als auch der Erhalt kultureller Institutionen und der Kampf gegen wirtschaftliche Probleme und den Leerstand sehr arbeitsintensiv. „Diese Care- und Erhaltungsarbeiten werden oft vor Ort unbezahlt von Freiwilligen ausgeführt“, sagt Karin Reisinger. Die Architektin der Akademie der bildenden Künste Wien untersucht die Vielfältigkeit dieser Arbeiten, wobei ihr Fokus vor allem auf räumlichen Praktiken der Sorge- und Pflegearbeiten, welche Kultur, Ökologie und Gesellschaft betreffen, liegt. „In einer sich verändernden Welt mit Klimawandel, Ressourcenknappheit und sozialer Ungerechtigkeit ist es wichtig, von Zonen zu lernen, die schon sehr lange mit unterschiedlichen Formen der Ausbeutung zurechtkommen, und zu sehen, welche Strategien und Praktiken sie entwickelt haben“, nennt sie ihre Motivation. Um diese Praktiken sichtbar zu machen, wendet Reisinger feministische Strategien an. In ihrem Projekt „Nach dem Abbau: Feministische Zukunftsgeschichten“ werden Bürger:innen eingeladen, ihre Erfahrungen von Care in den Zonen des Abbaus zu erzählen und über ihre Arbeiten zu diskutieren. „Nur durch die intensive Einbindung der Bürger:innen können wir die Vielfältigkeit und Komplexität des gelebten Wissens einbeziehen“, sagt sie.
„Nach dem Abbau: Feministische Zukunftsgeschichten“
Karin Reisinger, Akademie der bildenden Künste Wien, Institut für das künstlerische Lehramt