Regulierungswissen und Möglichkeitssinn 1914
Knowledge of regulation and the sense of possibilities
Wissenschaftsdisziplinen
Andere Geisteswissenschaften (40%); Philosophie, Ethik, Religion (20%); Sprach- und Literaturwissenschaften (40%)
Keywords
-
Möglichkeitssinn,
Geschichte des Wissens,
Regulierung,
Gouvernementalität,
Experiment,
Literatur des 20. Jahrhunderts
Das geplante literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Projekt untersucht Diskurse der Regulierung und Experimentalisierung im Zeitraum von 1914-33, also in einem Zeitraum, in dem gouvernemental verfasstes Regieren eskaliert und kollabiert. Es beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Regulierungswissen zu Disziplinierung und Normalisierung (Psychotechnik, Arbeitswissenschaften, Versicherungswesen, Bevölkerungsregulierung, Kriegstechnologie und Heeresorganisation), mit der Hervorbringung neuer Subjektivitäten (Selbsttechniken des Experimentierens, Selbstbeobachtung als objektivierende Introspektion, statistische Erfassung menschlichen Verhaltens), mit der Experimentalisierung politischer und verwaltungstechnischer Prozesse, mit den Modellierungen des Wissens über den Körper (in den Sexualwissenschaften, der Prothetik, der Anthropologie) und mit dem Ort, den das Denken der Potentialität in dieser Konstellation einnimmt. "Mögliche Körper" und "mögliche Räume", wie sie in der Literatur entworfen werden, werden als Bestandteil einer Geschichte der Gewalt und der Regierung untersucht, wobei jenen Momenten, in denen die Konstruktion imaginärer Möglichkeitswelten in Regulierungsphantasien umschlägt, besondere Aufmerksamkeit zukommt. Das Projekt sondiert Wissensbestände der Regulierung und Experimentalisierung in der Literatur, der politischen Theorie (und benachbarten Diskursen wie der politischen Ökonomie), den experimentellen Wissenschaften (Psychotechnik, Ingenieurswissenschaften, Medizin) und in der Philosophie. Zeitgenössische Texte werden im Sinne einer historischen Diskursanalyse vergleichend behandelt. Im Sinne einer "Poetologie des Wissens" (Joseph Vogl) fragt das Projekt danach, wann und mit welcher diskursiven Funktion die Rede von (Selbst)Regulierung, Experimentalisierung, Essayismus, ja einer "Experimentalgesellschaft" (Robert Musil) auftaucht, wie sie sich formiert, legitimiert und verbreitet. Mit der Rekonstruktion entsprechender Diskurse zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht es uns auch darum, aktuell virulente, neoliberale Argumentationsmuster historisch einzubetten und zu hinterfragen. Seit einigen Jahren werden - so unsere Wahrnehmung - Argumentationsmuster wieder aufgegriffen, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt wurden. Namentlich die neuerliche Bezugnahme auf Momente der Selbstregulierung (von Individuen, Märkten etc.), auf Risiko und dynamische Systeme, die neue Formen der Steuerung erfordern würden, sowie die darin enthaltenen Freiheitsversprechungen für ein "unternehmerisches" Subjekt scheinen uns einer historischen Betrachtung wert zu sein, die zeigen kann, welche Konzeptionen von Macht und Gewalt in diesen neoliberalen Konzepten des Regierens sedimentiert sind. Behandelte Autoren: a. Literatur/Essayistik: Rudolf Brunngraber, Alfred Döblin, Thea von Harbou, Franz Kafka, Siegfried Kracauer, Ernst Jünger, Robert Musil, Otto Soyka, Robert Walser b. Verwaltungs- und Verfahrenswissenschaften, Medizin, Ökonomie (Versicherungsdiskurs, Prothetik, Psychotechnik, Statistik, bildgebende Verfahren, wissenschaftliche Betriebsführung): Georg Schlesinger, Ferdinand Sauerbruch, Fritz Giese, Hugo Münsterberg, Narziss Ach, Kurt Lewin, Magnus Hirschfeld, Heinz von Foerster, Otto Neurath. c. Philosphie: Friedrich Nietzsche, Hans Vaihinger, Otto Neurath, Edgar Zilsel, Ludwig Wittgenstein, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen.
Das Projekt beschäftigte sich mit zwei grundlegenden Wissensformen des frühen 20. Jahrhunderts, die in einem spannungsvollen Wechselverhältnis zueinander stehen: Ein Wissen, das `Regierung` im Sinne einer Formung und Lenkung von Gesellschaft ermöglicht, steht einem Wissen gegenüber, das das Noch-Nicht-Gewusste als Ressource aufsucht und unterschiedliche (psychische, ökonomische, biologische) Vermögen experimentell zu erschließen sucht. Ein `normalisierendes` Regulierungswissen der in Form von Sicherheitsdispositiven auf das Leben zugreifenden Biomacht kontrastiert dabei mit einem `minimal invasiven`, liberalen Politikkonzept, das die Selbstregulierung fundamentaler ökonomischer Prozesse über das Konzept des Interesses strategisch nutzt. In einem offenen Feld von Möglichkeiten besteht Regieren im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend in einem Erkennen von Potentialitäten oder in der Herstellung von Wahrscheinlichkeiten, die das Feld des Handelns strukturieren. Dabei sind es gerade Gesten der Ermöglichung, welche das Regulierungsbegehren anspornen. Im Verlauf der Forschung erwies sich die Kategorie `Verhalten` im frühen 20. Jahrhundert als zentral für das Zusammenwirken von Möglichkeitsdenken und Regulierungswissen. Sie versprach, im restriktiven wie möglichkeitseröffnenden Sinne, auf Unkontrollierbares und Kontingentes - wie etwa Affekte, Motivationen und den Willen singulärer Individualitäten - zum Zwecke gesellschaftlicher, bevölkerungspolitischer, ökonomischer Optimierung regulierend zugreifen zu können. Das Projekt verband deshalb die Frage nach der Entstehung des Wissens vom Verhalten mit der nach seiner Inszenierung und untersuchte unter dieser Perspektive literarische Texte auf das Zusammenspiel von Regulierungs-Fiktionen, Wissenschaftsgeschichte und Interventions-Interesse. So entwirft Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" eine Poetik der Verhaltensforschung, in der mit literarischen Mitteln menschliche Handlungen und Reaktionen nicht nur analysiert, sondern durch den Entwurf von Verhaltensmodellen gelenkt werden sollen. Doch in Musils schier undurchdringlichem Gewirr von Studien- und Schmierblättern, Reflexionen und Selbstkommentaren verstrüppt sich alles Niedergeschriebene in ein "Gefilz von Kräften". Umgekehrt zeigt sich in den analog zur Tageszeitung strukturierten Aphorismensammlungen Peter Altenbergs ein Rückkoppelungseffekt solcher (vereitelter) Verhaltenssteuerung auf die Poetik: Eine lose Reihe von beratenden "Extracten" und "Lebensrezepten" wird dem Leser in einer Art literarischem Selbstbedienungsladen zur spielerischen Konfiguration angeboten. Als Resultat der Forschung stellte sich heraus, dass die Disziplinen Pädagogik, Psychologie, Arbeitswissenschaft ebenso wie die Lebens- und Naturwissenschaften (u.a. Neurologie, Physiologie, Chemie, Pharmazie) bereits in der Zwischenkriegszeit nicht nur Forschung als gesellschaftliche Praxis betreiben, sondern darüber hinaus eine enge Beziehung zu den Künsten unterhalten. Integrieren Robert Musil wie Bertolt Brecht Kurt Lewins Verfahren der Eignungsprüfung und Schulung von ArbeiterInnen in ihre ästhetischen Konzepte, so konzipieren Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld theatrale Formen als Untersuchungsverfahren wie als Regulierungsraum des kindlichen Verhaltens. Kunst ist hier zugleich Forschung und Intervention.
- Universität Wien - 3%
- Universität Wien - 97%
- Claus Pias, Leuphana Universität Lüneburg , assoziierte:r Forschungspartner:in
- Joseph Vogl, Humboldt-Universität zu Berlin - Deutschland
- Christoph Hoffmann, Max-Planck-Institut - Deutschland
Research Output
- 2 Publikationen
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2010
Titel Behaviour Guides and Law. Research Perspectives on the (In)Formal and its Currently Shifting Foundations DOI 10.1524/behe.2010.0011 Typ Journal Article Autor Harrasser K Journal Behemoth Link Publikation -
2010
Titel Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin DOI 10.1002/bewi.201001485 Typ Journal Article Autor Innerhofer R Journal Berichte zur Wissenschaftsgeschichte Seiten 365-381