Resonanz des Tragischen. Zwischen Ereignis und Affekt
Resonances of the Tragic
Wissenschaftsdisziplinen
Kunstwissenschaften (85%); Philosophie, Ethik, Religion (15%)
Keywords
-
History Of Corporality,
Choreography,
Theatrical Dance,
Staging Procedures,
Tragic,
Pathos,
Event,
Affect,
Ambivalence
Diese Studie widmet sich dem Tragischen im europäischen Tanztheater, dessen Evokation in einem Spannungsfeld von inszenatorischen Techniken, Konzeptionen, Verfahren und Momenten der Unterbrechung, der Aussetzung, der Störung und des Unbestimmbaren durch ek-statische Körperlichkeit erfolgt. An seiner ereignisgenerierenden Struktur und Funktion lassen sich formale und wirkungsästhetische Ordnungen erkennen, die mit neuen Konstellationen von Fiktion und Chorischem, Abwesenheit und Anwesenheit einhergehen. Aus tanzwissenschaftlicher Perspektive geht das Tragische von der Darstellung einer schauderhaften Ungeheuerlichkeit an der Grenze des Vorstellbaren durch den im mehrfachen Sinne bewegten Körper aus; doch wie genau wird Ambivalentes, Doppeldeutiges und Paradoxes über Pathosfiguren und -figurationen in Szene gesetzt, sodass das Tragische erscheinen kann? Über zwei exemplarische Inszenierungen des 18. und des 19. Jahrhunderts Jean Georges Noverres Der Gerächte Agamemnon (1771) und Luigi Manzottis Excelsior (1881) werden Resonanzen des Tragischen zwischen Ereignis und Affekt en Detail erörtert, um schließlich mit dieser Perspektive zeitnähere Aufführungen thesenhaft zu beleuchten. Die Studie versteht sich als Beitrag zur Wiedergewinnung der disziplinübergreifenden (diskursiven) Präsenz des Tragischen und des Pathos. Im Fokus steht deren vernachlässigte kinetische und kinästhetische Bedeutung. In Noverres Der gerächte Agamemnon bildet die antike Tragödie die Referenz für die Inszenierung des Tragischen im Reformballett der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das tanztheatrale Ereignis wird (noch) über die Vorstellung eines essentiellen Tragischen und die Anerkennung seiner künstlerischen und philosophischen Grundbedingungen hergestellt. Die gleichzeitige Pathosemphase in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Verlagerung der Geschehnisdynamik in das Innere der Figuren kündigt allerdings schon seinen Rückzug in den Affekt an. Die Pathosdarstellung spielt in der Dynamisierung der Bewegungsvorstellung noch eine entscheidende Rolle, da es vor allem die Anforderung des Ausdrucks von starken Gefühlen (Trauer, Hass, Wut, Zorn) ist, die den Körper und das alte Körperbild zur Erschütterung bringt. Man aktiviert nun vor allem den inneren Körper, spezifischer die Muskulatur, die Nerven und die Atmung und konzentriert sich vermehrt auf die Regulierung von Energie. Gleichzeitig wird die Wirkungsmächtigkeit des alten und in der attischen Tragödie immer anwesenden Chors durch (teilweise chorische) Gruppenformationen substituiert, die auf der tanztheatralen Bühne wiederholt werden, doch nicht kontinuierlich präsent sind. Das chorische Prinzip manifestiert sich über die Übertragung der singulären Geste auf die Gruppe, die als Zusammensetzung von ornamentierten Einzelfiguren inszeniert wird. Zu Zeiten von Manzottis Excelsior (1881) ist die antike Tragödie keine unmittelbare Referenz für ein großes tanztheatrales Ereignis mehr. Die De-Essentialisierung und Entsubstanzialisierung des Tragischen ist ein weitreichendes Phänomen des 19. Jahrhunderts. Man kann von einem ruinösen Tragischen im Tanztheater des 19. Jahrhunderts sprechen. Mit der Subvertierung und Substitution seiner eigentlichen Funktion, sprich der Hervorrufung eines großen theatralen Ereignisses, geht gleich dem Ruinendiskurs und der Auratisierung zerstörter antiker Artefakte in der europäischen Kultur im 19. Jahrhundert sein Werteverlust mit einem Ewigkeitsanspruch einher. In Excelsior manifestieren sich diese beiden Aspekte in der Entparadoxierung des Tragischen (Hans Ulrich Gumbrecht) und der Repräsentation einer neuen, zeitentsprechenden Mythologie. Die Darstellung von heftigen Leidenschaften, die nicht sinnfest gemacht werden kann, und die Verkörperung von unausweichlicher Gewalt, Grausamkeit und Abgründigkeit, die jeden Regelkanon temporär aussetzen, erscheinen in Excelsior in hohem Maße reguliert. Das Pathos als kleine Widerfahrnis innerhalb eines großen und reflexiv brechenden tragischen Ereignisses veräußerlicht sich im 19. Jahrhundert im Spektakulären. Paradoxerweise zeigt sich in Excelsior die dem Tragischen und dem Pathos zugesprochene ereignisgenerierende Qualität hauptsächlich in den Formationen der Tanzgruppen. Die Rhythmisierung einer Vielzahl von Körpern evoziert zwar eine scheinbare Verbindung zum Tragischen. Diese entbehren allerdings einer Grundbedingung des Tragischen, nämlich der elaborierten Darstellung von ausweglosem Leid. Es siegt das Pathos der Form (Karl-Heinz Bohrer) über einen die Form gefährdenden ungeheuren Inhalt, nämlich die Abwesenheit jeder Versöhnungsidee und die Darstellung/Verkörperung des absoluten Grauens. In den letzten Dekaden lassen sich wesentliche Aspekte der zwei für das 18. und 19. Jahrhundert herauskristallisierten Modelle zur Inszenierung des Tragischen wiederentdecken: Die Vision, das Tragische als großes tanztheatrales Ereignis in Szene zu setzen beispielsweise in Pina Bauschs Orpheus und Eurydike (1975) und der Rückzug des Tragischen in den Affekt in Meg Stuarts und Philipp Gehmachers Maybe Forever (2007). Bauschs Nähe zum Tragischen jenseits aller vordergründigen Antiken-Adaptation wird durch die Ambivalenzqualität einer energetischen und jeden Ausweg aus Leid und Schmerz abweisenden Körpersprache hergestellt, die auch die Spannung von singulärer Figur und chorischer Gruppe zeitgemäß umspielt. In der kleinen Form von Philipp Gehmacher/Meg Stuarts Maybe forever ist das Echo des Tragischen in der Segmentierung des Körpers zu finden, die das Selbstverständnis der Vorstellung eines einheitlichen und rational gesteuerten Subjekts erschüttert.
- Universität Salzburg - 100%