Die Tagebücher der Kunsthistorikerin Erica Tietze-Conrat Bd. I
Erica Tietze-Conrat Diaries, Band I: 1923-1926
Wissenschaftsdisziplinen
Geschichte, Archäologie (20%); Kunstwissenschaften (60%); Rechtswissenschaften (10%); Soziologie (10%)
Keywords
-
Austria,
Art,
Culture,
Women,
Austria,
Jewish
Die nun zur Veröffentlichung vorliegenden Tagebücher der austro-amerikanischen Kunsthistorikerin Erica Tietze-Conrat (Wien 1883-1958 New York) gliedern sich in drei Teile. Band 1 mit dem Titel Der Wiener Vasari umfasst die frühen und trotz der herrschenden Wirtschaftskrise hoffnungsvollen Jahre der Ersten Republik. Schauplatz ist Wien. Tietze-Conrats Ehemann und Fachkollege Hans Tietze (Prag 1880-1954 New York) ist als Ministerialbeamter mit der großen Aufgabe der Neustrukturierung der ehemals habsburgischen Museen betraut. Tietze-Conrat bewältigt selbst ein beeindruckendes Arbeitsprogramm. Und trotz der gesellschaftlichen Schranken, denen sie als Frau und Jüdin unterliegt, erscheint sie uns als Opfer der Verhältnisse. Sie führt den Leser durch ihren rastlosen Alltag, besucht Ausstellungen, die sie anschließend rezensiert, hält volksbildnerische Vorträge, erteilt Privatunterricht zur Kunstgeschichte in wohlhabenden Häusern und unterstützt die kunstpolitischen Bestrebungen ihres Mannes mit Beiträgen im Feuilleton vorwiegend deutscher Zeitungen. Neben ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter von vier Kindern und ihrer nie abreißenden kunstwissenschaftlichen Produktion bemüht sie sich um Anerkennung als Dichterin. Ihre diesbezüglichen Anstrengungen finden Eingang in die Tagbücher und lockern den Text mit poetischen Einsprengseln Collage-artig auf. Die Schilderungen des Alltags gewähren gleichzeitig interessante Einblicke in die Organisation eines mittelständischen Haushaltes und den Balanceakt zwischen materiellem Überleben, beruflicher Selbstverwirklichung, Kindererziehung und vorausblickender sozialer Vernetzung. In Wien sind Tietzes eine zentrale Schnittstelle der Avantgarde im Bereich der Künste, der akademischen und außeruniversitären Kunstwissenschaften, ja der europäischen Moderne im Allgemeinen. Sie führen ein offenes Haus in dem Künstler und Kunstgelehrte gern gesehene Gäste sind. Viele prominente, aber auch andere, heute zu Unrecht vergessene Persönlichkeiten tauchen in den Aufzeichnungen auf, ohne dass dabei je der Eindruck des namedroppings entstünde. Selbstbewusst bewegt sich Tietze-Conrat auf Augenhöhe mit den Genannten, stets um eine persönliche Einstellung zu deren geistigen wie künstlerischen Schöpfungen bemüht. Hunderte Namen werden in Band 3 (Indexband) mit den wichtigsten Lebensdaten erläutert, auf die bekanntesten unter ihnen, auf deren Werk sowie auf die gerade herrschenden gesellschaftspolitischen Zusammenhänge wird in den Kommentaren im Anschluss an das jeweilige Tagebuchjahr eingegangen. Als Hans Tietze um 1925 sein Reformwerk als gescheitert ansehen muss und sich angesichts des schleichenden politischen backlashes aus seiner offiziellen Position zurückzieht, begeben sich die beiden für mehrere Monate nach Spanien. Diese Reiseschilderungen einer exotischen Welt bilden als qualitätsvolles Kabinettsstück den Abschluss des ersten Bandes. An den Außenseiterstatus, den sie mit dieser Reise zu assimilieren suchen, knüpft der 2. Band mit dem Titel Leben im Katalog nach einer Unterbrechung von elf Jahren (über die keine Aufzeichnungen überliefert sind) konsequent an. Was 1937 als Arbeitsreise beginnt, die helfen soll, den politischen Spannungen in Österreich zu entkommen, verwandelt sich in die Flucht vor den Nationalsozialisten. Als Flüchtlinge und aktive Forscher in Person reisen Hans und Erica Tietze durch halb Europa bevor sie Anfang 1939 ihre Einreisevisa für die USA erhalten. Bei diesen späten Journalen handelt es sich folgerichtig ganz eigentlich um Arbeitslogbücher, Grundlage für den Katalog The Drawings of the Venetian Painters in the 15th and 16th Centuries, der schließlich 1944 in New York erscheinen wird. Im Zuge ihrer Recherchen in Museen und Privatsammlungen treffen Tietzes auf alte Bekannte aus dem Deutschen Reich. Sammler, die sich in die Schweiz, Frankreich, England und die Niederlanden flüchten konnten; Vertreter von Universitäten, Museen und Galerien, die gezwungen waren, ihr Land zu verlassen. Nicht wenige dieser vertriebenen Kunstfachleute sind nun im Kunsthandel tätig. 1937 teilt man noch kein gemeinsames Schicksal, die Perspektive ist eine andere, doch bald reiht man sich ein in das Flüchtlingsheer. Die täglichen Einträge gewähren seltene Einblicke in die Arbeitsweise von Kunsthistorikern, dies auch unter den schwierigen Bedingungen der Emigration. Gleichzeitig zeichnen die ständigen Ortswechsel ein verdichtetes Bild des zerfallenden Europa.
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