Die Verflechtung Anatoliens durch Dokumente (1200-1300)

Im späten Mittelalter zwischen 1200 und 1300 erlebten die Staaten in Anatolien (ungefähr das Gebiet der heutigen Türkei) eine Reihe schwerer Krisen. Im Jahr 1204 eroberte die Armee des Vierten Kreuzzugs Konstantinopel (das heutige Istanbul), das seit 900 Jahren die Hauptstadt des (ost)römischen Reiches gewesen war (das man auch das Byzantinische Reich nennt). Einige Vertreter der byzantinischen Eliten konnten dieser Katastrophe entkommen und gründeten im Exil neue Staaten, darunter die Reiche von Nikaia (heute Iznik in der Nordwesttürkei) und von Trapezunt (heute Trabzon, an der türkischen Schwarzmeerküste). Das seit 1100 neben dem Byzantinischen Reich in Zentralanatolien bestehende Reich der türkischen Seldschuken mit der Hauptstadt Konya konnte anfangs von der Schwächung des Nachbarreichs profitieren. Jedoch beunruhigte ab den 1220er Jahren der Vorstoß der Mongolen aus Zentralasien die Nachbarschaft Anatoliens. Im Jahr 1243 besiegten die Mongolen auch die Seldschuken und richteten große Zerstörungen an. Auf die Hilfe der Mongolen hoffte hingegen das Königreich der Armenier in Kilikien (in der heutigen Südosttürkei an der Mittelmeerküste), das immer mehr von den seit 1250 in Ägypten und Syrien herrschenden Mamluken bedroht wurde. Die Armenier standen auch in engem Kontakt mit Kaufleuten aus Venedig, Genua und anderen europäischen Städten. NebenWerkenvon Geschichtsschreiber*innen sind Urkundenunsere wichtigste Informationsquelle über diese Zeit. Mit solchen Dokumenten versuchten die Herrscher*innen dieser Reiche ihre Macht abzusichern, indem sie verschiedene Verträge mit benachbarten Staaten schlossen oder indem sie Unterstützer*innen im Inland gewannen, z. B. durch die Verleihung von Vorrechten an mächtige Landbesitzer*innen, darunter Klöster oder andere fromme Stiftungen. Das Projekt ENCHANT wird zum ersten Mal alle diese Dokumente, die in verschiedenen Sprachen verfasst wurden (unter anderem auf Arabisch, Armenisch, Griechisch, Latein und Persisch) in einer digitalen Datenbank erfassen und auf Englisch für Wissenschaftler*innen und alle Interessierten zugänglich machen. Darüber hinaus wird das Projekt untersuchen, wie die Herrscher*innen in diesen Texten auf die schweren Krisen dieser Zeit reagierten, und wie sich die verschiedenen Nachbarstaaten in der Gestaltung dieser Dokumente gegenseitig über sprachliche, politische und religiöse Grenzen hinweg beeinflussten. Damit wollen wir auch im Vergleich mit heute besser verstehen, wie Staaten sich an solche großen Herausforderungen anpassten.