Nutzungsregime am Gemeindegut in Tirol (~1750-1900)
Regulatory regimes of rural commons in the Tyrol (~1750-1900)
Wissenschaftsdisziplinen
Geschichte, Archäologie (10%); Land- und Forstwirtschaft, Fischerei (10%); Rechtswissenschaften (60%); Soziologie (20%)
Keywords
-
Rural Commons,
Common Land,
Regulatory Regimes,
Enclosure - Exclusion,
Tyrol,
18th-19th century
Unter Gemeindegut oder Allmende werden jene Liegenschaftenverstanden, die von einem bestimmten Personenverband (Gemeinde), der (auch) öffentliche Aufgaben wahrnimmt und über ein territoriales Substrat verfügt, kollektiv zu vornehmlich landwirtschaftlichen Zwecken genutzt werden. Die Frage des Ausmaßes der Partizipation unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen am Gemeindegut führte schon seit dem ausgehenden Mittelalter zu heftigen Konflikten, die ihrerseits oftmals in der flexiblen Anpassung bestehender Nutzungsregime resultierten. Die Entwicklung dieser rechtlichen Nutzungsregime, d. h. der Gesamtheit der Normen, welche den Zugang zum Gemeindegut und die Art sowie den Umfang der Nutzung regelten, steht im Zentrum dieses Forschungsprojekts. Die Untersuchung wird dabei den Zeitraum von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert im historischen Tirol (das heutige österreichische Bundesland Tirol sowie die italienischen Provinzen Südtirol und Trentino umfassend) behandeln. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums wandte sich die staatliche Gesetzgebung allmählich dem Regelungsgegenstand Gemeindegut zu, am Ende gab es einen österreichweit einheitlichen rechtlichen Rahmen, der für autonome Normsetzungen auf Gemeindeebene oder gewohnheitsrechtliche Nutzungsregeln keinen Raum mehr ließ. Neben der Entstehung der entsprechenden Nutzungsregime am Gemeindegut soll den damit in Zusammenhang stehenden rechtlichen Argumentationsstrategien besondere Aufmerksamkeit zuteil werden: Wie wurde das Bestreben legitimiert, bestimmte Gruppen von Gemeindebewohnern von der Nutzung des Gemeindeguts auszuschließen oder sie einzubeziehen, und welche Bedeutung kam dabei dem Konzept des Privateigentums zu? Im Zuge dessen sollen sowohl der rechtswissenschaftliche als auch auf Grundlage der archivalischen Überlieferung der behördeninterne Diskurs analysiert werden. In diesem Zusammenhang soll überdies der Frage nachgegangen werden, warum es in Tirol im Unterschied zu den meisten anderen europäischen Regionen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht zu einer Überführung des Gemeindeguts in das Privateigentum der Nutzungsberechtigten kam. Anhand ausgewählter Beispiele werden außerdem die streckenweise sehr konfliktintensiven Prozesse bei der Implementierung der Nutzungsregeln analysiert und Strategien lokaler Akteure bei der Durchsetzung ihrer Interessen aufgezeigt werden.
Kurzfassung Forschungsprojekt P 29277-G28 Regulierungsregime am Gemeindegut in Tirol, ca. 1750-1900 Kollektiv genutzte Grundstücke waren im Gebiet der alten Gefürsteten Grafschaft Tirol eine historische Konstante, die nicht wie in anderen Regionen durch Teilungs- und Ablösungsversuche beseitigt wurde. Trotz dieser Tatsache ist die Rechtsgeschichte solcher Landnutzungsformen kompliziert: Noch im 21. Jahrhundert führten einschlägige Interpretationsprobleme darüber zu juristischen Auseinandersetzungen vor dem Verfassungsgerichtshof und zu heftigen Debatten in der Historiographie. Ziel des Forschungsprojekts war es, die Entwicklung des Regulierungsregimes an solchen Gütern in der wichtigen Transformationsphase zwischen dem 18. und 19. Jh. zu analysieren. In einer Zeit, in der sich in Tirol grundlegende gesellschaftliche, rechtliche und politische Transformationsprozesse vollzogen, stand das Gemeindegut im Spannungsfeld staatlicher Reformmaßnahmen und lokaler Rechtsgewohnheiten, wodurch es Gegenstand vieler Rechtsstreitigkeiten wurde. Die Allerhöchste Entschließung vom 6.2.1847 schaffte das alte Allmendregal ab und ermöglichte die Teilung der Wälder zwischen Privaten, Gemeinden und Staat. Die günstige Quellenlage erlaubte eine detaillierte Analyse dieser sogenannten "Waldzuweisung" im Brixner Kreis. Zwischen 1847 und 1854 verzichtete das Ärar auf das Eigentum an Ost- und Südtiroler Wäldern zugunsten der politischen Gemeinden und der Gemeindefraktionen. Als Rechtstransfer aus der napoleonischen Gesetzgebung können diese Gemeindefraktionen - bis heute in der Forschung umstrittenen - als Gemeinschaften verstanden werden, die die ihnen ausschließlich zustehenden ländlichen Gemeingüter ungeachtet der Veränderungen der Gemeindestrukturen beibehielten und daher über eigene Güter, separate Nutzungsverhältnisse und eine autonome Buchhaltung verfügten. Zur nachhaltigen Benutzung ihrer Ressourcen hatten die bäuerlichen Gemeinschaften eigene Regeln zur Nutzungsteilnahme entwickelt: Am häufigsten hing sie vom Besitz eines "berechtigten" Hauses ab; im Süden des Landes war sie ein vererbtes Privileg der einheimischen Familien. Das revolutionäre, von den Franzosen eingeführte "Einwohnerprinzip" und einige Bestimmungen in der liberalen Gemeindegesetzen stellten diese Regeln in Frage und unterstützten stattdessen die Ansprüche der bislang ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten auf eine Nutzungsteilnahme. Die traditionell Nutzungsberechtigten versuchten daher ihre Sonderstellung als Folge ihres ersessenen Miteigentums zu verteidigen; wenn eine solche auf dem Privatrecht fußende Argumentation nicht möglich war, verlegten sie die Debatte auf die Interpretation der "alten Übung". Auch nach der Gemeindeordnung von 1866 blieb die Nutzungsberechtigung durch Rechtsgewohnheiten geregelt, deren gerichtliche Auslegung sich als besonders konservativ erwies. Andere Ergebnisse der Forschung sind die Wichtigkeit der von den ökonomisch-institutionellen Forschungsmodellen unterschätzten Rolle des Staates als Verwalter und mitbeteiligtem Rechtssubjekt sowie die besondere geographische Verteilung der Gemeingüter im Bundesland Tirol: Am häufigsten kommt im Westen das Gemeindegut, im Osten hingegen das bäuerliche Miteigentum vor.
- Universität Innsbruck - 100%
Research Output
- 2 Publikationen
- 1 Disseminationen
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2017
Titel Hearths' and animals' count. On the economic importance of commons in Friuli at the beginning of 17th century Contare i fuochi e gli animali: Sul peso economico dei beni comunali in Friuli al principio del seicento DOI 10.1408/89379 Typ Journal Article Autor Barbacetto S. Journal Quaderni Storici Seiten 349-381 -
2020
Titel Defending the commons. Scientific and human issues of a direct-hand experience Rivendicare i diritti collettivi: Aspetti umani e scientifici di un'esperienza concreta DOI 10.1408/99419 Typ Journal Article Autor Barbacetto S. Journal Quaderni Storici Seiten 591-624
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2019
Titel Interview with newspaper Typ A press release, press conference or response to a media enquiry/interview