Der hellenistische und römische Diskurs über den Athenischen Ostrakismos
The Hellenistic and Roman Discourse on Athenian Ostracism
Wissenschaftsdisziplinen
Geschichte, Archäologie (75%); Sprach- und Literaturwissenschaften (25%)
Keywords
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Ancient Greece,
Ostracism,
Athens,
Political Exiles,
Politics and Government,
Ancient Democracy
Das geplante Projekt greift ein grundlegendes Problem auf, vor das sich jede Demokratie gestellt sieht: Wie geht sie mit ihren Eliten um, die zwar einerseits für das Funktionieren des Staates unverzichtbar sind, andererseits jedoch eine permanente (und potentiell gefährliche) Antithese zum Idealbild der Gleichheit aller Bürger darstellen? Hier hat Athen vor genau 2500 Jahren mit dem Scherbengericht (Ostrakismos) eine originelle Lösung gefunden, näm- lich die temporäre Eliminierung einer einflussreichen Person aus dem politischen Prozess durch erzwungenes Exil. Aber wie gingen diese Ostrakophorien vor sich? Wie wurde diese Institution jeweils von der breiten Masse einerseits und der Elite andererseits bewertet? Nutzte man sie bewusst, um politische Pattsituationen zu überwinden oder die Ambitionen hervorstechender Persönlichkeiten durch Konformitätsdruck zu zügeln? Was charakterisiert den Ostrakismos als Teil der athenischen Demokratie und welche Rolle spielte er innerhalb dieser? Diese und weitere Fragen können trotz der zeitgenössischen literarischen Überliefe- rung und der spektakulären Ostraka-Funde des vorigen Jahrhunderts paradoxerweise nur anhand der hellenistischen und römischen Evidenz beantwortet werden. Denn im Gegensatz zu späteren Autoren sahen die Zeitgenossen keine Veranlassung, Selbstverständliches zu erklären. Eine übergreifende Auswertung aller Textpassagen aus hellenistischer und römi- scher Zeit sowie ihres Beitrages zu unserem heutigen Ostrakismos-Bild ist jedoch bis heute ein Desiderat der Forschung. Da die Sichtweise der späteren Autoren stark geprägt ist von ihren jeweiligen Quellenautoren, der herrschenden politischen Situation und ihren literari- schen Intentionen, ist eine übergreifende Kontextualisierung basierend auf philologisch- kritischer Arbeit kombiniert mit historischer Kommentierung unerlässlich für jede weitere übergreifende Analyse. Der Grundstein hierfür wurde in Wien mit der Sammlung, Kommentierung und Auswer- tung aller zeitgenössischen Ostrakismos-Testimonien (hrsg. von Peter Siewert 2002) gelegt. Basierend auf diesem ersten Band und ausgiebigen Vorarbeiten zielt das vorliegende Projekt darauf ab, erstens den Band II der Ostrakismos-Testimonien zu den hellenistischen und rö- mischen Testimonien vorzulegen und zweitens die anfangs angeführten Fragen nach Natur, Funktion und Rechtfertigung des Ostrakismos auf dieser neuen Grundlage zu beantworten. Zusammengenommen ergibt sich durch diese Vorgehensweise die einzigartige Gelegenheit, den Diskurs über eine zentrale demokratische Institution Athens von der Zeit ihrer Einfüh- rung bis in die römische Kaiserzeit zu analysieren.
DER HELLENISTISCHE UND RÖMISCHE OSTRAKISMOSDISKURS - ÜBERLIEFERUNG, WANDEL UND ZEITGENÖSSISCHE INTENTIONEN Eine Herausforderung, vor die jede Demokratie sich gestellt sieht, ist der Umgang mit den Eliten. Einerseits ist deren Kooperation für die Stabilität des Systems unverzichtbar, zugleich aber steht ihre bloße Existenz in gefährlicher Weise im Widerspruch zum Ideal der Gleichheit aller Bürger. Die athenische Demokratie erschuf zur Lösung dieses Problems ein innovatives Instrument: das Scherbengericht (Ostrakismos). Dieses berühmte Verfahren gab den Bürgern Athens alljährlich Gelegenheit, mittels einer allgemeinen Abstimmung einen ihrer führenden Männer auf 10 Jahre ins Exil zu schicken. Wie und aufgrund welcher Kriterien ist nun diese Institution einerseits vom Volk, andererseits von der Elite beurteilt worden? Trotz der Existenz zeitgenössischer literarischer Quellen und einer Fülle von Scherben (Ostraka), können diese und andere Fragen nur anhand der nachklassischen Evidenz beantwortet werden. Da die zeitgenössischen Autoren bei ihren Lesern direkte Kenntnisse voraussetzen konnten, hatten sie keinen Grund, solche Details zu behandeln. Die nachklassischen Autoren hingegen boten umfassende Darstellungen des Ostrakismos. Dennoch stellte die zusammenfassende Analyse und systematische Überprüfung ihres Zeugniswerts bislang ein Desiderat der Forschung dar. Ausgehend von der 2002 in Wien vorgelegten Sammlung, Kommentierung und Auswertung aller zeitgenössischen Ostrakismos-Testimonien (ed. P. Siewert) zielte das vorliegende Projekt darauf ab, diese Forschungslücke zu schließen. Abgesehen von zahlreichen Einzelstudien sind folgende Hauptergebnisse erzielt worden: 1.) Der zweite Band der Ostrakismos-Testimonien mit detaillierten Analysen und Kommentaren der hellenistischen und römischen Testimonien. 2.) Eine übergreifende Analyse der dominierenden Deutungsansätze. Als gemeinsamer Nenner konnte die Sicht auf den Ostrakismos als rein politische Maßnahme herausgearbeitet werden: Die unter den Zeitgenossen der Ostrakisierungen noch stark verbreitete Deutung als Strafe für gemeinschaftsschädliche oder gar kriminelle Verhaltensweisen spielte keinerlei Rolle mehr. Basierend auf der 'Politik' des Aristoteles wird der Zweck der Institution im 'Zurechtstutzen' des Einflusses übermächtiger Persönlichkeiten gesehen und diesem grundsätzlich eine gewisse Berechtigung zugestanden. Die konkreten Ostrakisierungen des 5. Jhs. wurden wiederum als Befriedigung irrationaler Neid- und Hassgefühle der breiten Masse interpretiert. Man darf in diesem Wandel der Betrachtungsweise die Wirkung der größeren zeitlichen und persönlichen Distanz der hellenistischen Autoren erkennen: Während die Zeitgenossen der Ostrakophorien bestrebt waren, die über die Opfer des Scherbengerichts verhängten Exilierungen durch die Behauptung eines angeblichen Fehlverhaltens der Betroffenen zu rechtfertigen, hatten die Autoren der hellenistischen Epoche kein Problem, den rein politischen Charakter der Ostrakisierungen zu erkennen und den Ostrakismos dementsprechend nach den Kriterien der politischen Opportunität zu bewerten.
- Universität Wien - 100%
- Stefan Brenne, Justus-Liebig-Universität Gießen - Deutschland
- Martin Dreher, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg - Deutschland
- Christian Mann, Universität Mannheim - Deutschland
- Cinzia Susanna Bearzot, Università Cattolica del Sacro Cuore - Italien
- David C. Mirhady, Simon Fraser University - Kanada
- James Sickinger, Florida State University - Vereinigte Staaten von Amerika
- Sara Forsdyke, University of Michigan - Vereinigte Staaten von Amerika
- Peter J. Rhodes, Durham University - Vereinigtes Königreich
- John K. Davies, University of Liverpool - Vereinigtes Königreich
Research Output
- 9 Publikationen
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2019
Titel s.v. Oligarchy Typ Other Autor A. Bayliss Seiten 629-631 Link Publikation -
2019
Titel Plutarch und die Provinz Asia; In: Bürgerethos und politische Verantwortung. Plutarchs Politische Ratschläge. Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinentia Typ Book Chapter Autor V. Hofmann Seiten 215-237 -
2019
Titel s.v. Ostracism Typ Other Autor Herbert Heftner Seiten 642-643 Link Publikation -
2023
Titel Diodorus Siculus und der athenische Ostrakismos Typ Journal Article Autor Heftner H. Journal Commentaria Classica. Studi di filologia greca e latina Seiten 137-171 Link Publikation -
2018
Titel The great procedural-historical scholion about ostracism [[]Philochorus FGrHist 328 F 30/Theophrastus fr. 640ab Fortenbaugh]: Attempt at reconstruction Das Große Verfahrenstechnisch-Historische Scholion über den Ostrakismos [Philochoros FGrHist 328 F 30 / Theophrast fr. 640ab Fortenbaugh] Versuch einer Rekonstruktion Typ Journal Article Autor Heftner H. Journal Tyche Seiten 79-112 -
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Titel Gossip and Comic Slander in the Ostracism Ostraka Typ Other Autor V. Hofmann -
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Titel Ostracism and Old Comedy in Plutarch Typ Other Autor V. Hofmann -
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Titel Der Petalismos in Syrakus - Eine kritische Betrachtung von Diodorus Siculus 11,86,5-11,87,5 Typ Other Autor H. Heftner Link Publikation -
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Titel Ostrakismos Testimonien II. Die Zeugnisse antiker Autoren über das athenische Scherbengericht aus hellenistischer und römischer Zeit Typ Book Autor H. Heftner Link Publikation