Der historisch-systematische Ort von Meister Eckharts lateinischen Bibelkommentaren
The Historico-Systematic Position of Meister Eckhart´s Latin Bible Commentaries
Wissenschaftsdisziplinen
Philosophie, Ethik, Religion (60%); Sprach- und Literaturwissenschaften (40%)
Keywords
-
Meister Eckhart,
Hermeneutics,
Medieval Philosophy,
Metaphysics,
Medieval Exegesis,
Philosophy of Language
Die Frage nach der systematischen Bedeutung von Meister Eckharts lateinischen Werken wird in der Forschung nach wie vor kontrovers diskutiert. Der großangelegte Gesamtentwurf des Opus tripartitum hatte der thesenhaften Darlegung und systematischen Diskussion philosophisch-theologischer Grundfragen noch das größere Gewicht gegenüber den sich daran anschließenden Schriftauslegungen geben wollen. Dennoch sind von den beiden ursprünglich vorgesehenen systematischen Blöcken des Opus propositionum und des Opus quaestionum lediglich Fragmente erhalten, während die meisten von Eckharts lateinischen Schriften die Form von Bibelkommentaren haben. Das vorliegende Projekt geht von der Grundthese aus, dass dieser Umstand nicht primär durch eine lückenhafte Überlieferungssituation bedingt ist, sondern darin begründet liegt, dass Eckhart seinen philosophisch-theologischen Gesamtentwurf letztlich innerhalb seiner Schriftkommentare entfaltet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er den biblischen Text in den Begriff hinein aufhöbe und damit in seiner Positivität zum Verschwinden brächte. Vielmehr wird an seiner exegetischen Methode ein besonderes Interesse für die konkrete Gestalt des lateinischen Vulgata-Textes erkennbar, an dessen grammatikalische Strukturen und Wörter Eckhart spekulative Überlegungen anknüpft. Die historische Sprachgestalt des Bibeltextes ist also keine nur äußerliche Umhüllung für einen überzeitlichen Gedankeninhalt, sondern erscheint gerade in ihrer linguistischen Materialität als Trägerin von vernunftrelevanten Einsichten. Eine weitere Besonderheit von Eckharts exegetischem Ansatz liegt darin, dass er keine fortlaufenden Kommentare zu den einzelnen biblischen Büchern verfasst, sondern in scheinbar eklektischer Manier nur bestimmte Passagen oder Verse herausgreift und kommentiert. All diese Aspekte verleihen Eckharts exegetischer Methode eine besondere Stellung innerhalb der scholastischen Theologie und Philosophie des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Einerseits kehrt Eckhart mit seinem Programm einer parabolischen bzw. figurativen Schriftauslegung zu den älteren Formen der patristischen Bibelexegese (vor allem Augustinus und Origenes) zurück; andererseits ist seine spekulative Deutung sprachlicher und semantischer Strukturen eindeutig von der modistischen Grammatik seines Zeitgenossen Thomas von Erfurt sowie der Sprach- und Bedeutungstheorie anderer zeitgenössischer Scholastiker beeinflusst. Der Umstand, dass Eckhart nur bestimmte, einzelne Passagen aus den biblischen Büchern kommentiert, deutet darauf hin, dass er wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis nicht mehr an die Bedingung eines aus obersten Prinzipien linear-deduktiv fortschreitenden Argumentationszusammenhangs knüpft, sondern sie als an- archisches bzw. pan-archisches Netzwerk versteht, in dem man, ausgehend von jedem beliebigen Wort, letztlich die gesamte Wahrheit der Hl. Schrift erschließen kann. Insofern kündigt Eckharts exegetischer Grundansatz einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel im scholastischen Denken an, der sich in einer verstärkten Hinwendung zur Positivität der Schriftoffenbarung und zu den konkreten sprachlichen Vermittlungsstrukturen menschlicher Erkenntnis manifestiert.
Das Projekt hatte sich die Aufgabe gestellt, Meister Eckharts lateinische Bibelkommentare zum einen im Kontext der mittelalterlichen Theologie und Philosophie zu verorten und zum anderen ihre ungewöhnliche innere Struktur näher zu untersuchen. Die Besonderheit von Eckharts Bibelkommentaren liegt darin, dass sie Teil eines systematischen philosophisch- theologischen Gesamtentwurfs sind und daher vor diesem Hintergrund gedeutet werden müssen. So legt Eckhart, anders als die meisten anderen Scholastiker seiner Zeit, die einzelnen Bücher der Heilige Schrift nicht durchgehend aus, sondern kommentiert nur wenige ausgewählte Passagen, ja oft nur einzelne, isolierte Verse. Diese Tatsache wurde in der Eckhart-Forschung oft dahingehend gedeutet, dass Eckhart gar nicht die Bibel als solche auslegen wolle, sondern die Bibelstellen nur zum Anlass nehme, systematische philosophisch-theologische Überlegungen anzustellen. Im Gegensatz zu dieser weit verbreiteten Auffassung konnte das Projekt nachweisen, dass Eckharts Bibelkommentare sehr wohl eine kohärente innere Struktur besitzen und auf die Auslegung der Heiligen Schrift als solcher ausgerichtet sind. Eckharts Interpretationen konzentrieren sich dabei auf diejenigen Passagen der Heiligen Schrift, aus denen sich die Prinzipien für die Auslegung des biblischen Textes insgesamt ableiten lassen. Von besonderer Bedeutung sind dabei vor allem zwei Arten von Bibelstellen: Die einen stehen in Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von sprachlichen Zeichen und bezeichneter Wirklichkeit. Sie reflektieren somit die grundlegende Problematik, wie man mit dem biblischen Text als Text umgehen muss und auf wie viele verschiedene Weisen er sich auf die außertextuelle Wirklichkeit beziehen kann. Die zweite Gruppe von Bibelstellen gibt Aufschluss über die Grundstruktur der Wirklichkeit als solcher, d.h. die Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die in der Natur und in der Vernunft des Menschen angelegt sind. Eckhart zufolge muss die Bibel stets so ausgelegt werden, dass sie mit diesen Vernunftprinzipien übereinstimmt. Die Grundsätze der richtigen Bibelauslegung werden also nicht von außen an die Heilige Schrift herangetragen, sondern sind in dieser selbst schon angelegt. Mit Blick auf die biblischen Bücher, die Eckhart kommentiert, fällt auf, dass seine beiden Genesisauslegungen sowie seine Auslegungen zum Buch der Weisheit und zu Jesus Sirach vor allem von den Prinzipien der Wirklichkeit als solcher handeln. Sein Kommentar zum Buch Exodus konzentriert sich hingegen stärker auf das Verhältnis von Erkenntnis, Sprache und Bedeutung, vor allem in Bezug auf die biblischen Aussagen, die mit Gottes Selbstoffenbarung in Zusammenhang stehen. Sein Johanneskommentar schließlich führt die beiden Stränge zusammen: In diesem Text steht Christus als der Logos im Mittelpunkt, der sowohl Prinzip der ganzen Schöpfung ist als auch durch seine Ich-Aussagen die Struktur des vernünftigen Selbstbewusstseins artikuliert, das jeder Schriftauslegung zugrunde liegen muss. Eckharts Bibelkommentare erweisen sich damit genaugenommen als Meta- Kommentare, die ausgehend vom Bibeltext die Prinzipien einer vernunftgemäßen Exegese reflektieren.
- Universität Wien - 100%
- Freimut Löser, Universität Augsburg - Deutschland
- Alessandra Beccarisi, Universita del Salento - Italien
- Fiorella Retucci, Universita del Salento - Italien
- Loris Sturlese, Universita del Salento - Italien
- Silvia Bara Bancel, Comillas Pontifical University - Spanien
- Markus Vinzent, King´s College London - Vereinigtes Königreich
Research Output
- 3 Publikationen
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2016
Titel The Nudity of the Ego. An Eckhartian Perspective on the Levinas/Derrida Debate on Alterity DOI 10.1080/00071773.2015.1100881 Typ Journal Article Autor Roesner M Journal Journal of the British Society for Phenomenology Seiten 33-55 Link Publikation -
2017
Titel Negation ohne Schmerz? Die Bedeutung von Kontingenz und Endlichkeit in den christologischen Entwürfen Hegels und Meister Eckharts DOI 10.1515/hgjb-2017-0121 Typ Journal Article Autor Roesner M Journal Hegel-Jahrbuch Seiten 125-130 -
2015
Titel Reason, Rhythm, and Rituality. Reinterpreting Religious Cult from a Postmodern, Phenomenological Perspective DOI 10.3390/rel6030819 Typ Journal Article Autor Roesner M Journal Religions Seiten 819-838 Link Publikation