Dynamiken von Crossover-Moden.
Dynamics of Crossover Fads.
Wissenschaftsdisziplinen
Andere Geisteswissenschaften (40%); Soziologie (60%)
Keywords
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Balkan music,
Cultural production,
Field theory,
Entrepreneurial brokers,
Institutionalization,
Methodology
Seit der Jahrtausendwende verbreitet sich in Westeuropa eine neue musikalische Mode: Balkanmusik. Der Komponist Goran Bregovic, die Blasmusikkapelle Fanfare Ciocarlia, DJ Shantel & the Bukovina Club wie auch Fatima Spar and the Freedom Fries erfreuen sich bei westeuropäischen HörerInnen und KritikerInnen der Presse enormer Beliebtheit. Balkanmusik wurde bereits in den 1970ern und 1980ern von so genannten Gastarbeitern in die städtischen Zentren vor allem Deutschlands und Österreichs gebracht. Aber erst am Ende des Jahrhunderts wurde sie in einem größeren Rahmen unter der deutschsprachigen Mehrheit dieser Länder vermarktet. Gibt es eine Erklärung für den Crossover-Erfolg der Balkanmusik beim urbanen Publikum zu diesem Zeitpunkt? Wir argumentieren, dass kulturelle Prozesse nur dann vollständig verstanden werden können, wenn sie vor dem Hintergrund der Struktur des Feldes kultureller Produktion analysiert werden, wobei wir die Bourdieu`sche Feldtheorie um Einsichten des US-amerikanischen Neo-Institutionalismus und der so genannten Production-of- Culture-Perspektive erweitern. Interne und externe Faktoren, wie die Kreativität einzelner KünstlerInnen oder spezifische Nachfragebedingungen der Gesamtgesellschaft werden durch die Dynamiken im Feld gebrochen, in dem AkteurInnen, die in unterschiedlichem Ausmaß über kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital verfügen, um Anerkennung und Konsekration kämpfen. Während Bourdieu Distinktion und Konflikt betont, verweisen US- amerikanische Kultursoziologen auf die isomorphe Institutionalisierung von Praktiken im Feld und auf kooperativere Formen strategischen Handelns. Am Beispiel der Balkanmusikmode in Österreich möchten wir zeigen, dass der Erfolg der Crossover-Moden von drei feldspezifischen Voraussetzungen abhängig ist: a) von AkteurInnen, die über ausreichend kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen verfügen, um Unterstützung zu mobilisieren, b) von institutionalisierten Genreklassifikationen, die den AkteurInnen der Industrie den Umgang mit dieser Art von Musik ermöglichen und c) von unternehmerischen VermittlerInnen, die die Kluft zwischen marginalisierten und etablierten Positionen im Feld überbrücken. Um die Dynamiken der Balkanmusikmode in Österreich verstehen zu können, ist es notwendig den gesamten Prozess seit 1990 bis zur Gegenwart zu rekonstruieren. Wir kombinieren historiographische (Recherche in Zeitschriften- und Zeitungsarchiven) und sozialwissenschaftliche (insbesondere qualitative Interviews) Methoden. Zentral für unser Projekt ist die Erstellung von so genannten Feldkarten zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Diese Karten dokumentieren die Positionen von Personen und Organisationen an unterschiedlichen Stufen des Prozesses. Außerdem wird durch die Karten das Ausmaß der Institutionalisierung von bestimmten Genreklassifikationen und der unternehmerischen Vermittlung im Feld sichtbar gemacht.
Die Musik der Balkanländer erlebte in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in Österreich zweifellos einen Boom. Die Zahl der Veranstaltungen mit Balkanbezug hat sich in den Jahren seit der Jahrtausendwende versechsfacht. Das Balkan Fever Festival und der ost klub in Wien sind die sichtbarsten Zeichen dieses Booms, doch letztlich hat er alle Teile des Landes erfasst. Das Bemerkenswerte daran ist aber nicht nur das große Interesse an dieser Art von Musik, sondern auch der Zeitpunkt des Auftretens. Wenn man bedenkt, dass Balkanmusik bereits vor Jahrzehnten mit den ArbeitsmigrantInnen nach Österreich kam und seither ein fixer Bestandteil des migrantischen Alltags ist, stellt sich die Frage, warum es so lange dauerte, bis sie sich am heimischen Musikmarkt jenseits der Einwanderercommunitys durchsetzen konnte. Zur Beantwortung dieser Frage wurde im Rahmen des dreijährigen Forschungsprojektes auf der Basis von Zeitungs- und Zeitschriftenberichten, Promotionsmaterial und Interviews mit MusikerInnen und VeranstalterInnen die Geschichte der Balkanmusik in Österreich seit den frühen 1990er-Jahren minutiös rekonstruiert. Der Schwerpunkt lag dabei vor allem auf den Personen und Institutionen, die wesentlich zum Erfolg der Balkanmusik in der Mehrheitsgesellschaft beitrugen. Im direkten Vergleich der kulturellen Produktionsbedingungen von MigrantInnen der frühen 1990er-Jahre und jener der RepräsentantInnen des Balkanmusikbooms des ersten Jahrzehnts des neuen Millenniums werden die Voraussetzungen für den Crossover-Erfolg deutlich. Letztere verfügen nicht nur über eine deutlich höhere (meist akademische) Ausbildung, sondern auch über gute interkulturelle Beziehungen zu wichtigen Institutionen des österreichischen Musiklebens. Zudem vermögen sie es, ihren musikalischen Musikproduktionen eine Rahmung zu geben, die nicht nur in der Öffentlichkeit Resonanz erzeugt, sondern auch der Mobilisierung von Unterstützung im Musikfeld dient. Während die Musik der Arbeitsmigranten lange Zeit als Folklore betrachtet und nicht selten in einem akademischen oder integrationspolitischen Kontext einem größeren Publikum zugänglich gemacht wurde, wird Balkanmusik zur Jahrtausendwende zunehmend als World Music gerahmt und mit den populärmusikalischen Attributen der Spontaneität und Vitalität versehen. Eine wichtige Rolle kommt dabei so genannten unternehmerischen Mittlern (Veranstaltern, Labelbetreiber etc.) zu, die helfen, kulturelle und soziale Barrieren zu überwinden. Die Ergebnisse bieten nicht nur einen spannenden Einblick in die Logik spezifischer musikalischer Felder, sondern tragen auch zum Verständnis sozialer Integration und damit zur Lösung eines der dringlichsten gesellschaftlichen Probleme bei.
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