Der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis
The First World War in the Collective Memory
Wissenschaftsdisziplinen
Andere Geisteswissenschaften (20%); Geschichte, Archäologie (80%)
Keywords
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First World War,
Collective Memory,
Political Culture,
First Republic,
Austrofascism,
Sites Of Memory
Der Gedächtnisdiskurs in Österreich betreffend den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg hat lange Zeit die Erinnerung an den ersten der globalen Kriege des 20. Jahrhunderts "überschrieben". In dieser Konstellation wurden vor allem zwei Aspekte in der For-schung nur marginal behandelt,: Der Übergang der kollektiven Erinnerung an den Ersten Weltkrieg vom Funktionsgedächtnis in das Speichergedächtnis nach 1945 vollzog sich aus europäischer Perspektive national und regional gesehen in unterschiedlichem Ausmaß (vgl. Anniversaire de l`Armistice, Armistice/Remembrance Day etc.). Der zweite Aspekt besteht darin, dass in der politischen Kultur zwischen 1918 und 1938 in Österreich der Erste Weltkrieg als Deutungsmuster und sinnstiftender Topos in den politischen und wissenschaftlichen Diskursen eine zentrale Rolle spielte, bevor er Gegenstand jener palimpsestartigen gedächt-nisgeschichtlichen Überschreibung nach 1945 wurde. In der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung stellt das Thema des Ersten Weltkriegs als Element der Gedächtniskultur in Österreich ein Forschungsdesiderat dar. Das geplante Projekt strebt daher an, in Verbindung von Ansätzen der Gedächtnis- und der Politische-Kultur-Forschung die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Zwischenkriegszeit im kommunikativen wie im kulturellen Gedächtnis zu rekonstruieren und zu rekontextualisieren. Dabei steht ihre diskursive Konstruktion und ihre symbolischen Ausdrucksformen in der Politischen Kultur der Republik bzw. (ab 1934) des Bundesstaates Österreich im Vordergrund. Es ist zu untersuchen, wie in öffentlichen Repräsentationen - z.B. Soldatenehrungen, Toten-gedenken oder Inszenierungen an kriegsspezifischen Jahres- und Feiertagen - in der Ersten Republik und im autoritären "Ständestaat" deutende und sinnstiftende Narrative und deren Gegenerzählungen zum Ausdruck kommen. Im Mittelpunkt stehen dabei politische Diskurse, die mit dem Kampf um die Deutungsmacht betreffend Identität und das soziale und politische System in den Jahren 1918 bis 1938 in Beziehung stehen. Eine zweite Perspektive ist eine Bestandsaufnahme und Analyse der Zeichensetzungen im öffentlichen Raum, die auf die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in den Jahren nach 1918 verweisen. Im Vordergrund stehen dabei Denkmalsetzungen, Namensgebungen von Straßen und Plätzen und die Einrichtung von Friedhofsarealen für Kriegstote. Ein dritter Schwerpunkt der Arbeit soll die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg als Argument in der politischen Debatte untersuchen und die Deutungen des Krieges und seiner Auswirkungen hinsichtlich ihrer Inhalte und ihres Stellenwertes im politischen Feld einer Analyse unterziehen.
Die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und seine politisch-kulturelle Deutung im Österreich der Zwischenkriegszeit waren bisher abgesehen von Einzelstudien kaum und vor allem nicht systematisch erforscht. Das Projekt ermöglichte erstmals eine umfassende Untersuchung zur Frage, wie der Weltkrieg im Österreich der Jahre 1918 bis 1938 ohne die Erfahrung eines zweiten Weltkriegs gedeutet wurde. Von zentraler Bedeutung war dabei die Unterscheidung zwischen der Ebene des Bundesstaates und den regionalen und lokalen Ebenen sowie den politischen und soziokulturellen Lagern. Wesentlich war dabei auch der interdiskursive Konnex mit anderen gesellschaftspolitischen Fragen wie der Konstruktion von Männlichkeit oder dem Umgang mit Modernität und Modernisierung. Ein Schwerpunkt war dabei die Untersuchung von Gedächtnisorten sowie von politischen Debatten und Diskursen. Ein weiterer Fokus lag im Zuge der Projektarbeit zunehmend auf der Beobachtung der künstlerischen Verarbeitung und ihrer öffentlichen Resonanz Literatur, Film, bildende Kunst, Fotografie, Architektur. Ein zentrales Ergebnis war das Fehlen einer konsensualen österreichischen Erzählung vom Ersten Weltkrieg in der Zwischenkriegszeit. Die Deutungen des sozialdemokratischen, des christlich-konservativen und des deutschnationalen Lagers unterschieden sich erheblich voneinander. Insbesondere die Sozialdemokratie stand mit einer anti-habsburgischen Nie wieder Krieg-Haltung im Gegensatz zu den beiden anderen Lagern. Dieser Unterschied zeigt sich deutlich in der Denkmalskultur, in der Wien und die sozialdemokratisch dominierten Industriegemeinden eine Sonderstellung einnehmen. Ein verbindliches, offizielles Narrativ vom Weltkrieg wurde schließlich zwischen 1933 und 1938 unter den Bedingungen der austrofaschistischen Diktatur durchgesetzt. Auffällig ist auch die starke regionalspezifische Ausprägung der Diskurse und ihrer Ausdrucksformen. Vor allem Kärnten und Tirol entwickeln charakteristische Erzählungen vom Weltkrieg, die stark mit der Nachkriegsgeschichte verbunden sind. Der Deutungskampf zwischen den politischen Lagern ist allerdings bis in kleine Gemeinden feststellbar. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Ersten Weltkrieg setzen sich affirmative Deutungen vor allem auch durch die betont habsburgfreundliche Diktatur des Ständestaats verstärkt durch. Hinsichtlich der künstlerischen Erinnerung an den Krieg und seiner medialen Repräsentation ist dessen weitgehende Absenz in der Zwischenkriegszeit auffällig. Anders als beispielsweise in Großbritannien ist die Erfahrung des Krieges, vor allem die konkrete Fronterfahrung mit ihren Auswirkungen auf das Subjekt in literarischen und künstlerischen Werken in Österreich weitgehend ausgeblendet. Befunde wie diese zeigen, dass Forschung unter Anderem zur Kontextualisierung Österreichs in einem internationalen Vergleich ein dringendes Desiderat sind.
- Universität Graz - 100%