Außenseiter, Gesetzlose, Abtrünnige, Hexen

Die populärsten literarischen Texte im frühneuzeitlichen England (ca. 1500-1800) waren nicht etwa Romane, wie Daniel Defoes Robinson Crusoe, auch nicht Dramen, wie die berühmten Werke von William Shakespeare, sondern gehörten einer heute relativ unbekannten Gattung an: der Ballade. Mit tausenden von Werken ist dennoch nur ein Bruchteil solcher broadside ballads erhalten, so genannt aufgrund der einseitigen Blätter, auf die diese Liedtexte im Schnellverfahren gedruckt und dann zu Tiefstpreisen an die breite Masse verkauft wurden. Weil die Balladen auf einer Druckseite Platz hatten, der sich rasch entwickelnde Buchdruck die billige Massenproduktion ermöglichte, und diejenigen, die nicht selbst lesen konnten, sich die Balladen vorsingen ließen, ging das Konzept voll auf. So wurde der gedruckte Text schrittweise zum Massenphänomen, nicht zuletzt, weil auch immer mehr Menschen aus allen sozialen Schichten das Lesen lernten und sich ihre Literatur selbst kaufen und selbst konsumieren konnten zu dieser Zeit ein Novum in England. So verbreiteten sich ungeheuerliche Nachrichten, heroische Legenden sowie alles dazwischen und erreichten alle: vom angesehenen Gentleman zum einfachen Tagelöhner. Am liebsten lasen und hörten die Menschen von Heldinnen und Helden, die gesellschaftliche Normen brachen und über die wir heute noch gerne lesen: Piraten, Hexen, Abenteurer und vor allem Gesetzlose oder Räuber wie Robin Hood. Fast alle Geschichten, die wir heute von dem charismatischen englischen Helden aus dem Sherwood Forest kennen, stammen nicht aus mittelalterlichen Quellen, sondern von den broadside ballads. Davon ausgehend setzt sich das vorliegende Projekt zum Ziel, der frühneuzeitlichen englischen Ballade eine angemessene Position innerhalb der Literatur- und Kulturgeschichte einzuräumen und ihre bemerkenswerte Rolle in der Entwicklung der britischen Literatur und Kultur zu verdeutlichen. Als Kern der Untersuchung dient eine repräsentative Sammlung von Balladen, die von solch normüberschreitenden (transgressiven) Figuren erzählen. Die genauere Untersuchung erfolgt sodann in drei Schritten: 1.Zunächst soll eine sogenannte Charaktertypologie der englischen Ballade erstellt werden, die das Repertoire an Hauptfiguren und ihre typischen erzählerischen Eigenschaften systematisch erfasst und beschreibt. 2. In einem ähnlichen Verfahren werden dann die typischen Handlungsverläufe sowie Erzähltechniken, die die Balladengattung charakterisieren, untersucht und beschrieben. 3. Abschließend soll darauf basierend die Ballade als Textgattung in die Sozial- und Kulturgeschichte Englands in der Frühen Neuzeit eingebettet werden. Dabei wird untersucht, inwieweit die Texte einerseits wichtige kulturelle Entwicklungen widerspiegeln, andererseits aber auch beeinflusst oder befeuert haben könnten. Die Ergebnisse sollen in Form eines Buches veröffentlicht werden, das neue Maßstäbe für die Erforschung der Ballade als Textgattung und ihrer Rolle in der Literaturgeschichte setzen soll.