Repräsentation ohne Demokratie
Repräsentation ohne Demokratie
Wissenschaftsdisziplinen
Politikwissenschaften (100%)
Keywords
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Political Theory,
Representative Democracy,
European Integration
Die Legitimität demokratischen Regierens ist eine Funktion seiner Repräsentativität. Politische Entscheidungen werden durch den Verweis auf den repräsentativen Charakter der am Entscheidungsprozess beteiligten Institutionen und Personen gerechtfertigt. Die elementaren Anforderungen an eine Theorie der Repräsentation können in drei Gruppen gefasst werden: 1. Wer wird repräsentiert (Individuen, Klassen, Gruppen) und wer repräsentiert (gewählte Politiker, Bürokraten, nominierte Sprecher)? 2. Was wird repräsentiert (Interessen, Nation, eine ideelle Einheit)? 3. Wie wird repräsentiert (imperatives versus freies Mandat)? Jede dieser Fristen wirft eine schier unüberschaubare Fülle von Problemen auf, die zu den zentralen Themen der politischen Philosophie gehören. Jean-Jacques Rousseau verneinte in seiner radikaldemokratischen Theorie die Möglichkeit der Repräsentation souveräner Individuen. Die amerikanischen Verfassungsväter sahen Repräsentation v.a. unter dem Aspekt der Veredelung gewöhnlicher Meinungen. Das freie Mandat, wie es von Edmund Burke so eloquent gefordert wurde, erfordert ein hohes Ausmaß an Vertrauen in die Repräsentanten. Ein Vertrauen, um das es, wie es unzählige Umfragen signalisieren, nicht zum Besten steht. Nichtsdestoweniger ist in der Neuzeit das Konto der Repräsentation tragender Teil der Demokratietheorie und praktischen Staatsorganisation geworden. Um welchen Preis? Mit welchen Vor- und Nachteilen sind repräsentative Systeme behaftet? Verwenden wir unter kognitiven Ausblendung ihres Inhalts lediglich Begriffe, die zwar einen beruhigenden Effekt, aber keine Erklärungskraft jenseits der Theorie besitzen? Denn bezüglich des Konzepts der Repräsentation besteht in der Literatur lediglich Übereinkunft hinsichtlich seiner zentralen Bedeutung in der Theorie der modernen Demokratie. Seine Verwendungs- und Interpretationsmöglichkeiten aber zeigen eine erstaunliche Vielfalt und Flexibilität. So wurden spezifische Verwendungen zur Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse ebenso instrumentalisiert wie zu ihrer Kritik. Die vorliegende Arbeit skizziert die Entwicklung des modernen Verständnisses von politischer Repräsentation im historischen Kontext und erstellt einen Katalog von Funktionen. Repräsentativsysteme sind immer interessen- und wertgeleitete Antworten auf gesellschaftliche Bedingungen. Ändern sich diese Bedingungen, so ist zu erwarten, dass sich sowohl das Verständnis als auch die Praxis politischer Repräsentation ändern. Der Prozess der europäischen Integration stellt die nationalstaatlichen Repräsentativsysteme vor erhebliche Herausforderungen. Die mittlerweile inflationäre Rede vom Demokratiedefizit der Europäischen Union wird in dieser Arbeit gewendet und als Repräsentationsdefizit, genauer: als System kollidierender Repräsentationsmuster verstanden. Hat sich im Nationalstaat die parlamentarische Repräsentation (über Parteien) als stärkste Form erwiesen, so finden wir auf europäischer Ebene eine Vielzahl solcher teilweise kollidierender Modi: nationale und regionale Repräsentation im Europäischen Rat und im Ausschuss der Regionen; institutionelle Repräsentation im Ministerrat; Interessenrepräsentation durch Lobbies und den Wirtschafts- und Sozialausschuss; Parlamentarische Repräsentation durch das EP und die COSAC; Repräsentation aufgrund von Expertise im System der Komitologie und den Ratsarbeitsgruppen; bürokratische Repräsentation in der Kommission. Es gilt zu klären, in welchem Verhältniss diese stehen, denn auf den ersten Blick ermöglicht die Vielzahl zwar eine Fülle von Zugangspunkten - zur selben Zeit werden bestimmte Modi aber eindeutig bevorzugt. Ziel des zweiten Abschnitts ist es, diese kollidierende Mode und das sich ändernde Repräsentativverständnis und -system der Union zu untersuchen. Im Mittelpunkt stehen dabei der Prozess der Durchsetzung des Direktwahlaktes zum Europäischen Parlament (1976 - 1979), der Verfassungsentwurf von A. Spinelli Anfang der 1980er Jahre sowie die gegenwärtige Konstitutionalisierungsdebatte. Das Buch schließt mit einer äußerst skeptischen Evaluation des demokratischen Potentials europäischen Regierens.