Entwicklungskanalisierung im menschlichen Kopf

Die gezielte und präzise Entwicklung von Organismen, abgepuffert gegen genetische und Umwelteinflüsse, ist eine Voraussetzung für die Entwicklung und Evolution komplexen Lebens. Zunehmend wird klar, dass vielen menschlichen Krankheiten mit unklarer Entstehungsgeschichte eine Störung dieser Entwicklungskanalisierung zugrunde liegt. Die moderne Biologie hat viele zentrale Prozesse der tierischen Entwicklung enthüllt, aber wir wissen immer noch erstaunlich wenig über die Mechanismen, die diese Prozesse stabilisieren und fehlgeleitete Entwicklung wieder zu ihren Soll-Pfaden zurückführt. Der Schädel ist der komplexeste Teil des menschlichen Skeletts; er umgibt das Gehirn und die Sinnesorgane, sowie die Atemwege und den Kauapparat. Präzises und koordiniertes Wachstum der verschiedenen Schädelteile ist daher eine notwendige Voraussetzung für funktionierendes Wachstum des menschlichen Kopfes. Mit Hilfe einer Vielfalt von theoretischen und empirischen Analysen untersuchen wir in dem eingereichten Projekt die zeitlichen und räumlichen Muster der Entwicklungskanalisierung im menschlichen Kopf zusammen mit deren genetischer Basis und klinischen Relevanz. Wir werden dabei eine umfangreiche mathematische und statistische Theorie der Entwicklungskanalisierung entwerfen, die es uns erlaubt, deren zentrale Eigenschaften in wachsenden Individuen zu entdecken und zu quantifizieren. Wir integrieren diese neuen Methoden in die moderne Morphometrie und Bildanalyse um sie auf longitudinalen Serien von Röntgenbildern anzuwenden, die die gesamte nachgeburtliche Entwicklung des menschlichen Kopfes abdecken. Anhand von Röntgenbilder von Zwillingen sowie von dreidimensionalen CT Bildern und Oberflächenscans von genotypisierten Individuen untersuchen wir die quantitativ-genetische Basis von Kanalisierung. In Patienten nach einer gesichtschirurgischen Behandlung (mandibuläre sagittale Split Osteotomie) modellieren wir Rezidive während des post-operativen Knochenumbaus als Kanalisierung auf einen unerwünschten Zielpfad. Dies soll zu einer optimalen Behandlungsplanung mit minimalem Rezidiv beitragen.

Die gezielte und präzise Entwicklung von Organismen, abgepuffert gegen genetische und Umwelteinflüsse, ist eine Voraussetzung für die Entwicklung und Evolution komplexen Lebens. Eine Störung dieser "Entwicklungskanalisierung" liegt vielen menschlichen Krankheiten mit unklarer Entstehungsgeschichte zugrunde, aber wir wissen immer noch erstaunlich wenig über die Mechanismen, die fehlgeleitete Entwicklung wieder zu ihren Soll-Pfaden zurückführt. Das Ziel dieses FWF-Projekts war es, Entwicklungskanalisierung im menschlichen Schädel zu untersuchen. Zu diesem Zwecke entwickelten wir ein formales Modell der Entwicklungskanalisierung und zeigten, wie die Stärke der Kanalisierung sowie die tatsächlich kanalisierte Varianz in einer Population geschätzt werden kann. In einer Anwendung auf eine Röntgenstudie fanden wir, dass die Schädelgröße innerhalb der ersten fünf Lebensjahre stark kanalisiert ist. Dagegen wies die Größe der Stirnhöhlen keine Anzeichen von Kanalisierung auf. Verschiedene Aspekte der Schädelgestalt zeigten sehr unterschiedlich Entwicklungsdynamiken. Während die relativen Dimensionen des Rachenraums starke Kanalisierung und eine abnehmende Varianz während der gesamten postnatalen Entwicklung aufwiesen, nahm die Varianz in der Orientierung des Gesichts kontinuierlich zu. Diese Methoden und Ergebnisse können zur Identifizierung der molekularen und entwicklungsbiologischen Mechanismen der Entwicklungskanalisierung dienen. Aktuell wenden wir diese Methoden an, um Rezidive (als eine Form der pathologischen Kanalisierung) nach kieferchirurgischen Eingriffen zu untersuchen. Mittels einer Kombination von morphologischen und genetischen Daten untersuchen wir außerdem die genetische Architektur von Varianz und Kanalisierung im Schädel. Wir entwickelten auch mehrere neue morphometrische Methoden um die Generierung und Kanalisierung morphologischer Varianz zu untersuchen. Wir zeigten zum Bespiel, wie morphometrische Varianz auf unterschiedlichen räumlichen Skalen getrennt und untersucht werden kann. Dabei zeigten wir, dass lokale kompensatorische Wachstumsprozesse eine Kanalisierung auf größerer Ebene bewirken können. Wir fanden etwa, dass viele funktionale Komponenten des Schädels kanalisiert sind, obwohl die einzelnen Knochen, die diese Strukturen bilden, in ihren Dimensionen stark zwischen den Individuen variieren. Wir vermuten, dass epigenetisch und mechanisch induzierte kompensatorische Wachstumsprozesse ein Schlüsselfaktor für das kanalisierte Wachstum komplexer Strukturen, wie dem Schädel, sind. Wir erweiterten bestehende morphometrische Methodik um Kanalisierung von symmetrischen und asymmetrische Gestaltkomponenten in verschiedenen Gruppen zu vergleichen. In einer Studie über endokraniale Gestalt (der Teil des Schädels, der das Gehirn umfasst) in Menschen und Menschaffen, fanden wir, dass das räumliche Asymmetriemuster, welches bisher als einzigartig im Menschen betrachte wurde, mit dem der Menschenaffen weitgehend übereinstimmt. In den Menschen war dieses Muster aber weniger gerichtet, und einzelne lokale Asymmetrien waren weniger korreliert. Wir fanden also, dass menschliche Gehirnasymmetrie mehr variabel - weniger kanalisiert - ist im Vergleich zu den Menschenaffen. Dies spiegelt vermutlich die erhöhte funktionelle und entwicklungsbiologische Modularisierung des menschlichen Gehirns wider.